Sauna, eisige Kälte und eine lebendige Jazzszene – unser Dozent Alexander von Hagke hat bei seinem Erasmus+ Austausch mehr als diese gängigen Finnland-Stereotypen erlebt und mitgenommen. Im Rahmen unseres Projekts „musician – a profession without borders“ unserer Berufsfachschule war er von 19. bis 25. März 2017 zu Gast in der Musik-Abteilung am Jyväskylä College. Sein Fokus lag auf dem Unterricht in Saxophon, Gehörbildung und Bandspiel. Dabei fiel ihm besonders die enorme Bedeutung des Praxis-Bezugs und des eigenverantwortlichen Arbeitens der Schüler im finnischen Schulsystems auf. Hier berichte er selbst über den Ablauf seines „Lern- und Lehraufenthalts“ in Jyväskylä:
Zielsetzung
Zielsetzung meines Lernaufenthalts war u.a.
1. der Kenntniserwerb über das Ausbildungssystem am Jyväskylä College und Ableitung von Verbesserungsbedarf beim Projektträger Neue Jazzschool München e.V.
2. die Evaluierung und Erweiterung der eigenen Unterrichtskompetenzen, auch im englischsprachigen Kontext
Als Aufgaben wurde konkret formuliert:
1. Ensembleleitung mit eigenen Arrangements und/oder Kompositionen
2. Unterrichten in praktischen und theoretischen Fächern
3. Unterrichtsbesuche
4. Austausch mit Lehrern über Stundenpläne und Konzepte
Betreuung vor Ort
Dozent und Erasmus+-Projektmanager Markku Rinta-Pollari, auch ein Saxophonist wie ich, stand mir während des Aufenthaltes unterstützend zur Seite. Organisatorisch verlief alles sehr gut, und alle Aufgaben konnten reibungslos erledigt werden.
Alexanders Jyväskylä-Tagebuch
Sonntag, 19.03.2017
Ankunft, Abendessen mit finnischen Lehrern
– 10:00-12:00 Uhr: Unterrichten im Jazzworkshop, Erarbeitung von zwei Kompositionen von mir. Die Band dazu wurde speziell zusammengestellt („best of“): hohes Spielniveau, angenehmes Arbeitsklima
– 12:30-14:00: Besuch des Worldmusic-Kurses. Thema:„On-Samba“ und „Off-Samba“:
1) Arbeitsblatt mit Samba-Rhythmus, jeweils um eine 16tel verschoben (Partido Alto)
2) Sambastück → Verwendung der Rhythmen für’s Comping. Verschiedene Musiker spielen mit unterschiedlichem Startpunkt → Verzahnung
Üben verschiedener Songparts
– Abends: Saunabesuch mit Markku Rinta-Pollari
– 10:00-12:00 Uhr: Unterrichten in Rhythmische Gehörbildung: Dreierverschiebung in verschiedenen Varianten. Übungen in der Gruppe. Diktat. Ausblick: Fünfergruppen
– 12:30-14:00: Unterrichten der Saxophonklasse
Ton&Klang: Konzepte, verschiedene Übungen. Übekonzepte. Arbeit an Stücken.
– Abends: Besuch einer Jam-Session mit Schülern
Mittwoch, 21.03.2017
– 10:00-12:00 Uhr: Besuch eines Bandworkshops; der Workshop wurde in Einzelgruppen zerlegt. Vergleichende Gespräche über Unterrichtsinhalte mit Markku.
– 12:30-14:00 Besuch eines Theoriekurses für Schüler des ersten Jahres. Thema: Rhythmische Gehörbildung.
Konzept: Ein Schüler singt ein Diktat vor (klopft Viertel mit dem Fuß), die anderen schreiben. Der Lehrer beobachtet und korrigiert. Übergreifendes Thema: Vierteltriolen. Alle Details konnte ich nicht verstehen, da der Unterricht auf Finnisch gehalten wurde.
Anhören eines Smooth Jazz/Pop-Stückes → Sprechen über den Schlagzeuggroove; Transkription; Singen des Grooves im Beatbox-Stil.
Anhören eines Latin-Riffs. Transkription des Rhythmus‘. Singen.
– 14:00-16:00 Uhr: Diskussion und Vergleich der Schulsysteme mit Markku.
– Abends: Konzertbesuch (Tango-Ensemble „Otra Vez“) in der Uni mit mehreren Lehrern.
– Vormittags: Besichtigung verschiedener Schulräume, u.a. Konzertsaal & Tonstudio
– 12:30-14:00 Uhr: Unterrichten in Tonale Gehörbildung. Gemeinsame Transkription von Melodie und Akkorden von Norah Jones‘ „Don’t know why“
– nach 14:00 Uhr: Besuch des World-Music-Workshops bei den Proben für das Abschlusskonzert
– Abends: Prüfungskonzerte des Jazz-Workshops und des World-Music-Workshops im Club „Poppari“
Freitag, 23.03.2017
– Mittags: gemeinsame Lehrer-Jamsession
– Abends: Konzert des Jazz-Workshops im Cafe „Papu“
Samstag, 24.03.2017
Abreise
Das Schulsystem, das Ausbildungsprogramm & Alexanders Fazit
Das Ausbildungssystem am Jyväskylä College ist, genau wie an allgemeinbildenden Schulen in Finnland, in Sechs-Wochen-Perioden organisiert. Es wird sehr viel Wert auf eigenständige Arbeit der Schüler und Bezug zur Berufspraxis gelegt. Die Stundenpläne erfordern auch das Belegen von zahlreichen Wahlfächern, hierdurch wird individuelle Profilbildung ermöglicht. Die an sich zweijährige Ausbildung kann auch in drei oder vier Jahren in Teilzeit gemacht werden. Gängige Modelle sind Vollzeit (zwei Jahre), parallel zum Gymnasium (drei bis vier Jahre), berufsbegleitend. Die Sechs-Wochen-Perioden an Gymnasien stehen allerdings laut Markku Rinta-Pollari u.U. vor der Abschaffung (u.a. wg. sozialer Schwierigkeiten, kein Klassenverband). Dies würde dann eine Änderung auch an Berufsfachschulen nach sich ziehen.
Insbesondere die Bandworkshops fand ich sehr ergebnisstark. Die Vermittlung von theoretischen Kenntnissen in Blöcken halte ich hingegen für weniger geeignet. Hier erschienen mir die Schüler z.T. nicht ganz so weit wie bei uns.
Als besonders beachtenswert am finnischen System möchte ich folgende Punkte hervorheben:
- Theoretisch schwächere Schüler belegen einen Einstiegskurs. Die anderen beginnen mit Theorie erst in Periode 2.
- Die sechswöchigen Workshops sind zu einzelnen musikalischen Stilrichtungen: z.B. Blues, Soul, Jazz, Reggae, Funk/Groove, Freejazz, Pop/Schlager, Brazil/Latin…
- Ein Teil der Workshops ist rein instrumental, dafür gibt es ein Gesangsensemble mit den Hauptfach-Sängern.
- Es werden interessante und z.T. sehr schwere Stücke gespielt, zudem wird vertieft am Verständnis der Stilistik gearbeitet. Zur Probenarbeit werden die Workshops auch auf mehrere Räume aufgeteilt.
- Die Schüler erhalten z.T. nur eine Aufnahme und müssen ihre Stimme selbständig transkribieren.
- Am Ende jeder Periode gibt es ein Abschlusskonzert, welches die Schüler organisieren. Die Organisation wird auch bewertet.
- „Nebenfächer“ haben weniger Gewicht. Es gibt keine Noten und keinen Leistungsdruck.
- Zudem gibt es weniger Wochenstunden. Daher haben die Schüler mehr Zeit zum Üben und eigenständigen Lernen. Stundenzahl: 4-5 Std./4 Tage; Zusätzlich individuelle Proben/Üben usw. gibt z.T. auch Credits.