Im Rahmen unseres Erasmus+ Projekts „musician – a profession without borders“ konnten wir unseren Berufsfachschul-Dozenten Volker Giesek von 19. bis 25. November 2017 für einen Lehr- und Lernaufenthalt an unsere holländische Partnerschule Rijn IJssel nach Arnhem schicken. Hier Volkers Eindrücke und Einschätzungen:
Rijn IJssel & sein Ausbildungssystem
Rijn IJssel ist mit 50 Niederlassungen und 1500 Mitarbeitern die größte Einrichtung für berufliche Sekundärbildung der Provinz Gelderland. Allein in Arnheim und Umgebung gibt es 23 Standorte. Im Gebäude in der Thorbeckestraat, in dem ich die meiste Zeit war, gibt es Abteilungen für Grafik-Design, Mode-Design, Tanz, Schauspiel, Installationstechnik, Werkzeugbau und natürlich Musik.
Es gibt auch im Musik-Department keine Aufnahmeprüfung, Voraussetzung ist ein Mindestalter von 16 Jahren und ein Schulabschluss. Die Ausbildung dauert drei Jahre und führt zu einem Berufsabschluss mit Level 4, einem sogenannten Mbo. Hat ein Schüler keinen Schulabschluss oder keine abgeschlossene praktische Ausbildung, kann er an Rijn IJssel einen einjährigen Vorbereitungskurs besuchen, der auf den Arbeitsmarkt oder auf ein Mbo-Programm mit Level 2 vorbereitet. Großer Wert wird auf die praktischen Fähigkeiten (Bandarbeit) und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt gelegt.
Montag, 20. November 2017
Jeroen muss gleich weiter zum Unterricht, wir übrigen trinken einen Begrüßungs-Kaffee in der Kantine und besuchen anschließend gemeinsam den Unterricht von Cas Reising. Im Fach Entrepreneurial Skills hat er sich für eine Spezialstunde entschieden. Es geht um:
• Urheberrecht
• GEMA (in Holland: BUMA-STEMA)
• Creative Commons Lizenzen
• Neighbouring Rights
• Persönlichkeitsrecht
In diesem Zusammenhang zeigt er Ausschnitte des Films „RIP – Remix Manifesto“, der die Frage aufwirft, wie sogenannte „Mash-Ups“ (per Computer zerhäckselte und neu zusammengesetzte Originalsongs) im Sinne der kreativen Leistung und des Copyrights zu bewerten sind.
Music History
In Music History präsentieren zwei Schüler jeweils einen von ihnen bewunderten Musiker. Die Präsentation wird von Cas anschließend kommentiert und bewertet. Im zweiten Teil der Stunde geht es um die Produzenten Joe Meek und Phil Spector, ihre wegweisenden Produktionsmethoden und mit welchen Künstlern sie zusammengearbeitet haben. Cas gibt für alles Audio- und Videobeispiele (YouTube, Vimeo).
Klavierunterricht
Im Anschluss besuche ich den Pianounterricht von Bas Keder. In 90 Minuten kommen nacheinander drei Schüler zu ihm. Er erzählt mir, dass es nur noch 14-tägig 30 Minuten Klavier für alle gibt (egal, ob Neben- oder Hauptfach). Auch gibt es keinen „Lehrplan“ oder ein Pflichtprogramm, das alle absolvieren müssen und welches benotet wird. Die Schüler kommen mit Fragen zu Songs aus den Ensembles, auch zu eigenen Kompositionen, und Bas beantwortet sie. Sehr häufig im Stil einer „Harmonielehre am Klavier“.
Besprochen wurden z. B.
• Turnaround I VI IV V in Moll und parallelem Dur > Dur-Moll-System
• Kirchentonleitern und charakteristische Töne
• Improvisationskonzepte: Kontrast, Sparsamkeit, Feeling, Rhythmik
• Besprechung einer eigenen Komposition eines Schülers
Aufgrund des seltenen Unterrichts steht Bas als „freiwillige Zusatzleistung“ in Email-Kontakt mit seinen Schülern, stellt Zusatzaufgaben und lässt sich MP3s schicken, zu denen er Feedback gibt.
Dienstag, 21. November 2017
Ich habe mir vorgenommen, um 10:00 Uhr das im Stundenplan aufgeführte Ereignis „Study Development Counseling – Guest students make the program, 45 minutes presentation of whatever“ zu besuchen. Leider findet das aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht statt. Der im Plan angegebene Raum ist anderweitig belegt. Macht aber nichts: Statt dessen lerne ich meinen „Kontakt-Mann“ Sander Ponne kennen und er schlägt vor, dass ich ihn einfach auf seiner Band-Coaching-Runde begleite.
Bandcoaching
Sander erklärt, dass es seine Aufgabe ist, aus der 1. Klasse (25 bis 30 Schüler) vier bis fünf Ensembles zusammenzustellen. Diese Bands proben am Beginn ihrer Ausbildung jede Woche ein neues Stück unterschiedlicher Stilistik, das er vorher im Theorieunterricht bespricht. Die Schüler müssen sich zu diesen Stücken selbstständig Leadsheets erstellen und in einer Mappe sammeln. Aufgrund mangelnder Disziplin ist es neuerdings nötig, Schüler, die dieser Aufgabe nicht nachkommen, in der betreffenden Woche vom Ensemblespiel auszuschließen.
Die sechs Probestudios befinden sich in einem anderen Gebäudeteil. Dort angekommen, schaut Sander für jeweils ca. 10 Min bei den vier zu betreuenden Bands vorbei. Heute steht „Stand By Your Man“ auf dem Programm. Sander hört sich die jeweilige „Anfangsversion“ an, gibt Tipps, kritisiert und kontrolliert auf einem zweiten Rundgang den Fortschritt der Schüler.
Erste eigene Stunde: Musiktheorie
Vor dem nächsten Programmpunkt stellt mir Sander noch Jelmer Bronsdijk vor. Er ist für die Organisation der Praxiseinheiten (Konzerte, Praktika etc.) in der Musikabteilung zuständig. Um 11:30 Uhr halte ich eine 90-minütige Musiktheoriestunde über ästhetische Grundprinzipien und, wo man sie in der Musik wiederfindet: Symmetry – Duality – Balance/Counterweight.
Showcase
Das funktioniert dann erstaunlich reibungslos. Jede Band wird vom Lehrer zu Beginn ihres ca. 20 Minuten langen Sets gebeten, sich und ihr Konzept kurz vorzustellen. Bei den Austauschschülern reichen zwei Songs, da sie ja erst seit ein paar Tagen zusammen spielen. Überhaupt liegt der Schwerpunkt der Ausbildung an Rijn IJssel auf den Bandprojekten, dabei stilistisch im Rockbereich. Die Band, die gleich als erste und vor den „International All Stars“ spielt, hat offensichtlich sehr viel an ihren Songs und Arrangements gefeilt. Alles sind Eigenkompositionen. Es kommen Teile des Arrangements vom Sequenzer, Laptop auf der Bühne, der Drummer spielt zum Klick. Der Sound ist druckvoll und der Gesamteindruck überzeugend.
Neben dem Showcase-Unterricht gibt es zwei konzertante Showcases pro Jahr für jede Band. Bewertet werden:
• Raumaufteilung auf der Bühne
• Set-Dramaturgie
• Performance
• Ablauf, Effizienz bei Aufbau und Soundcheck: Hat jeder seine Aufgabe?
• passen Kleidung, Haare, Make Up zur Musik?
Kritikpunkte zur Rijn IJssel-Band waren etwa:
• Die Sängerin ist zu unfokussiert
• „Performance einiger Bandmitglieder wie bei einer Trauerfeier“
• Wenn schon Publikum beim Soundcheck anwesend ist: Nicht die erste Nummer für den Soundcheck verwenden.
• Der Gitarrist geht zu viel vor und zurück und verliert so den Kontakt zum Publikum.
• „Lasst es schwer aussehen, obwohl es leicht ist.“
• Wieso gab es technische Probleme mit dem Laptop, gab es ein Backup?
Schönster Spruch des Tages, gerichtet an die in ihren Sitzen fläzenden Mitschüler: „Get off your asses and be an audience!“
Premiere: Bandcoaching mit Volker
Später gehe ich auf Empfehlung von Sander zur Jazz Session ins Café Classen, Emanuel ist auch da.
Mittwoch, 22. November 2017
Donnerstag, 23. November 2017
Da Sander keine Zeit hat, übernehme ich von 9:00 bis 12:30 Uhr das abschließende Bandcoaching alleine. Nachdem ich noch einmal Feedback zu den einzelnen Songs gegeben habe, legen wir eine Pause ein. Danach beende ich die Vorbereitungen auf das Konzert mit einer Generalprobe.
Showtime: Das Abschlusskonzert
Freitag, 24. November 2017
Um treffe ich mich mit Ineke Sadée, die die Erasmus+ Aktivitäten an Rijn IJssel koordiniert und u. a. Lehrerin für Mode-Design ist. Sie erklärt mir, dass sie dabei ist, das KA2-Erasmus+ Projekt „MusicXchain“ zu entwickeln, an dem auch unserer Berufsfachschule beteiligt ist, und dass sie sich auf die gemeinsame Arbeit freut.
Danach treffen wir uns mit Jelmer, Sander und den Schülern im Büro zwecks Auswertung des Erasmus+ Aufenthalts durch Emanuel, Nicolas und mich. Am Abend gehen wir zum Abschluss auf Einladung von Ineke und der Schule gemeinsam türkisch essen.
Fazit
Es war ein sehr angenehmer Aufenthalt und die Arbeit mit den Schülern einfach und problemlos. Sander hat sich toll um mich gekümmert und auch der Kontakt zu Jelmer, Ineke und den anderen Lehrern war kollegial-freundschaftlich und informativ.
Der mit der stilistischen Ausrichtung auf den Rock-Bereich einhergehende Fokus auf Präsentation und Performance ist für mich stimmig. Die Ensembles, die kurz vor dem Abschluss stehen, haben eine starke Bühnenpräsenz und präsentieren ihr Set mit Eigenkompositionen sehr überzeugend. Gerade im Hinblick auf den realen Arbeitsmarkt als Musiker denke ich aber, dass mehr Genre-Vielfalt die Chancen der Absolventen erhöhen würde.
Da es keine Aufnahmeprüfung gibt, ist das Niveau bei den Schülern im 1. Jahr nicht sehr hoch. Gut hat mir die Verzahnung von Theorieunterricht und Ensemblespiel gefallen. Die Schüler entwickeln Eigeninitiative, indem sie selber für ihre Leadsheets, Auf- und Abbau sowie Soundcheck im Showcase-Unterricht und bei Konzerten sorgen müssen. So sind sie auf diesen Aspekt des Musikerlebens vorbereitet.
Die Schüler zu Beginn ihrer Ausbildung jede Woche mit einem neuen Stück und einer neuen Stilistik zu konfrontieren, ist zwar gut gemeint. Aber in so kurzer Zeit kann aus meiner Sicht nichts vertieft werden, zumal, wenn ein Lehrer vier oder fünf Ensembles gleichzeitig zu betreuen hat. Das fehlende Pflichtprogramm in den praktischen Fächern empfinde ich als Manko. Allerdings hat mir die Möglichkeit gefallen, dass Schüler im Klavierunterricht Fragen zur Harmonielehre oder ihren Kompositionen stellen können. So etwas wäre leicht auch an unserer Berufsfachschule umzusetzen.